Persönliche Erklärung zur Abstimmung über die Einrichtung eines Sondervermögens für die Bundeswehr in Höhe von 100 Mrd. Euro

27. Juni 2022

Der russische Überfall auf die Ukraine als Fortsetzung und Höhepunkt der Aggression seit 2014 hat die Grundsätze der europäischen Friedensordnung in Frage gestellt. Die Bundesrepublik Deutschland sieht sich mit einer Lage konfrontiert, die extrem besorgniserregend ist. Vor 25 Jahren wurde der NATO-Russland-Vertrag abgeschlossen, der geprägt war von gegenseitigem Entgegenkommen und mit dem wir glaubten, den Frieden in Europa dauerhaft gesichert zu haben. Diese Bemühungen wurden von russischer Seite brutal und einseitig beendet. Nun ist die Frage nach der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und der unserer Verbündeten von einer Aktualität und Dringlichkeit, die sich niemand gewünscht hat. Sicherheit muss umfassend verstanden werden. Sicherheit nach außen wird gewährleistet durch militärische Fähigkeiten ebenso wie durch diplomatische Anstrengungen und durch Entwicklungszusammenarbeit. Die Blockade der Lieferketten für Nahrungslieferungen durch die Russische Föderation ist das beste Beispiel für die Destabilisierung ganzer Regionen, der militärisch nicht zu begegnen ist. Dass diese Aspekte im Sondervermögen nicht berücksichtigt werden, ist eine große Schwäche des grundsätzlich richtigen und wichtigen Vorhabens. Äußere und innere Sicherheit sind außerdem untrennbar verbunden. Vor dem russischen Überfall auf die Ukraine war Donald Trump die größte Gefahr für das westliche Bündnis, vor kurzem gelang Marine Le Pen der Einzug in die Stichwahl in Frankreich. Ihr Wahlerfolg hätte der europäischen Einigkeit gegenüber Russland ebenso ein Ende bereitet wie allen Vorstellungen künftiger gemeinsamer europäischer Verteidigungsinitiativen. Die Gründe für diese Wahlerfolge sind unter anderem auch in russischen Bemühungen zu suchen, freiheitliche Demokratien durch Desinformations- und Einflusskampagnen von innen zu destabilisieren. Sie sind andererseits auch verursacht durch innere Spaltungen, gerade wirtschaftlicher Art, die den Nährboden geboten haben für diese Wahlerfolge. Im Ausklammern dieser Sicherheitsfragen liegt eine weitere Schwäche des Sondervermögens – stärkere Anstrengungen zur Förderung der Medienkompetenz aller und digitale Sicherheitsstrukturen gegen Desinformations- und Einflusskampagnen werden hier leider nicht abgebildet. Die größte Gefahr liegt aber in möglichen inneren Verteilungswirkungen infolge dieser Ausgaben. Das macht die Ausgaben nicht prinzipiell falsch, aber vor dem Hintergrund einer kategorischen Ablehnung von Steuererhöhungen für sehr reiche und reiche Menschen und bei gleichzeitiger Beibehaltung der Schuldenbremse laufen wir Gefahr, Konkurrenzen zu schaffen zwischen dem Wehretat, den Ausgaben für die sozial gerechte ökologische Transformation unserer Wirtschaft, den damit verbundenen Aufwendungen für eine ambitionierte Bildungs- und Wissenschaftspolitik sowie denen für soziale Sicherheit und wirtschaftlichen Ausgleich. Eine Vernachlässigung dieser Felder droht aber den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Akzeptanz unseres demokratisch-freiheitlich verfassten Staates zu beschädigen und macht ihn damit angreifbar. Nicht militärisch, aber als offene Gesellschaft. Ich kann dem Sondervermögen daher nicht zustimmen, da ich größte Bedenken habe, dass dieses grundsätzlich richtige Vorhaben durch nachgelagerte Verteilungswirkungen zwar die Sicherheit Deutschlands in einem eng verstandenen Sinne stärkt, in einem umfassender verstandenen aber Gefahren schafft. Ich hoffe sehr, dass ich falschliege.

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