Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
Italien ist im Bereich der Flucht- und Migrationspolitik in der Vergangenheit oft allein gelassen worden, auch von der Europäischen Gemeinschaft. Wir bekennen uns zu einer gemeinsamen europäischen Verantwortung für Menschen, die in der Europäischen Union Schutz suchen.
Italien darf als Mittelmeeranrainer- und Außengrenzstaat mit dieser Aufgabe nicht allein gelassen werden. Unterstützung sowie eine solidarische Verteilung Geflüchteter in der Europäischen Union sind notwendig. Dennoch sind wir angesichts des am 02.01.2023 verabschiedeten Dekrets der italienischen Regierung im Bereich der zivilen Seenotrettung, das nun in geltendes italienisches Recht umgewandelt werden soll, in großer Sorge. Das Dekret steht im Widerspruch zu internationalem Seerecht, internationalen menschenrechtlichen Vorgaben und europäischem Sekundärrecht.
Wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages fordern die Abgeordneten des italienischen Parlaments dazu auf, sich für die bedingungslose Einhaltung des Völkerrechts einzusetzen und appellieren an unsere italienischen Kolleg*innen ihren parlamentarischen Handlungsspielraum zu nutzen. Allein im Jahr 2022 sind nach offiziellen Angaben 2.365 Menschen bei dem Versuch, Schutz und Sicherheit in Europa zu finden, im Mittelmeer gestorben oder noch vermisst.
Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist. Das anhaltende Sterben an Europas Grenzen erschüttert uns zutiefst. Menschen aus Seenot zu retten und in Sicherheit zu bringen ist neben völkerrechtlicher auch humanitäre Verantwortung. Seit 2015 trägt vor allem die europäische Zivilgesellschaft mit dem Einsatz ziviler Rettungsschiffe dazu bei, mehr Tote auf See zu verhindern und unserer europäischen humanitären Pflicht nachzukommen. Dabei operieren sie stets im Rahmen des bereits umfassenden bestehenden Rechtsrahmens für Such- und Rettungsaktivitäten.
Bereits die aktuelle Politik Italiens nicht die nächstgelegenen sicheren Häfen sondern Häfen im Norden von Italien zuzuweisen, deren Erreichen mehre Tage dauert, gefährdet das Leben und die körperliche Unversehrtheit von Menschen, die unmittelbar aus Seenot gerettet wurden. Auf Grundlage des neuen Dekrets wird zivilen Rettungsschiffen nun außerdem die Anweisung erteilt, nach einer Rettung auf direktem Wege einen zugewiesenen italienischen Hafen anzufahren, auch wenn sich zeitglich weitere Menschen in Seenot befinden. Dieser Vorgang reduziert die Rettungskapazitäten im Mittelmeer erheblich und führt dazu, dass Rettungen entweder nur verzögert durchgeführt werden können oder gar komplett ausbleiben. Weniger Rettungsschiffe in der SAR Zone führen weiterhin nicht zu weniger Flüchtenden, sondern lediglich zu noch mehr Toten auf der Flucht. Damit ist das Dekret mit dem geltende Recht der in Art. 98 des Seerechtsübereinkommen verankerten Pflicht zur Rettung, sowie der im SOLAS-Übereinkommen festgeschriebenen Pflicht die Personen schnellstmöglich an einem sicheren Ort an Land zu bringen, nicht zu vereinbaren. Auch der Europarat zeigt sich besorgt darüber, dass mit Anwendung des Dekrets die Arbeit von Seenotrettungsorganisationen unverhältnismäßig eingeschränkt wird und Italien menschen- und völkerrechtlichen Pflichten nicht nachkommt.
Am 15. Februar 2023 stimmt das italienische Parlament nun darüber ab, ob das Dekret in ein Gesetz gegossen wird. Wir appellieren an das italienische Parlament, bei der Abstimmung die berechtigten Sorgen über die Folgen des Dekrets für Menschenleben auf See zu berücksichtigen.